Störungen des Sozialverhaltens (DSM-5: Conduct Disorder, CD) sind durch schwer beeinträchtigende aggressive und nicht-aggressive Verhaltensauffälligkeiten gekennzeichnet. Das Ansprechen auf therapeutische Interventionen und der Langzeitverlauf der Verhaltensstörung lassen sich aufgrund der Heterogenität der Symptomatik kaum abschätzen. Geschlechtsspezifische Unterschiede waren bisher kaum erforscht, obwohl die Prognose von Mädchen mit aggressivem und antisozialem Verhalten mindestens ebenso schlecht ist wie die betroffener Jungen [1]. Die neurobiologischen und psychosozialen Mechanismen der CD und potenzielle geschlechtsspezifische Unterschiede zu erforschen, ist das Ziel des grossen, von der Europäischen Union geförderten femNat-CD-Projekts. Prof. Dr. Graeme Fairchild, (Bath/UK) stellte neue Ergebnisse bildgebender und neuroendokrinologischer Untersuchungen vor. Mit insgesamt 1’750 teilnehmenden Kindern und Jugendlichen aus 7 Ländern Europas (inkl. Deutschland) ist es die bisher grösste Studie ihrer Art.
Unterschiedliche hirnstrukturelle Veränderungen
In der funktionellen und strukturellen Bildgebung fanden die Forscher sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen mit CD. Beide Geschlechter hatten gleichermassen Probleme bei der Emotionserkennung und zeigten eine ähnliche Hyperreaktivität im Putamen. Die Präsentation verärgerter Gesichtsausdrücke führte bei Jungen zu einer Hypoaktivität in der linken Amygdala, bei Mädchen hingegen zu einer Hyperaktivität. Auch in der Mikrostruktur der weissen Substanz fanden sich Besonderheiten 2: Im Diffusion Tensor Imaging (DTI) wiesen sowohl Jungen als auch Mädchen mit CD gegenüber gleichaltrigen Kontrollpersonen ausgedehntere Gebiete mit einer vergrösserten Integrität der weissen Substanz auf, vor allem im Corpus callosum, der wichtigsten Struktur für die Kommunikation zwischen beiden Gehirnhälften. Aber im Bereich der Capsula interna fand sich bei den Mädchen mit CD eine höhere mikrostrukturelle Integrität der weissen Substanz – sowohl im Vergleich zur Kontrollgruppe als auch im Vergleich zu Jungen mit und ohne CD. Die Capsula interna enthält Faserbahnen, die die motorischen Informationen zum Kortex und zum Rückenmark übertragen. Sie verbindet aber auch solche Hirnregionen miteinander, die eine Schlüsselrolle für Entscheidungsprozesse haben.
Fehlende Koordination von physiologischen und psychologischen Stressantworten
In einem weiteren Teilbereich des fem-NAT-CD-Projekts wurden die neuroendokrinologischen Antworten auf Stressbelastung im Trierer Social Stress Test (TSST) analysiert. In der Kontrollgruppe stiegen die Cortisolwerte kurz nach dem TSST steil an und fielen anschliessend wieder langsam in den Normalbereich zurück. Überraschenderweise zeigten Jungen und Mädchen nach TSST-Konfrontation eine abgeflachte Cortisolreaktion, obwohl sie sich deutlich gestresst und aggressiv fühlten. Der typische Cortisolanstieg auf Stress blieb bei beiden Geschlechtern komplett aus. Auch die Testosteron- und Oxytocinspiegel waren bei Jungen und Mädchen mit CD während und kurz nach dem Stresstest signifikant geringer als in der Kontrollgruppe. Auch hier war kein stressassoziierter Anstieg nach dem TSST zu erkennen. Laut Fairchild deuten die Ergebnisse darauf hin, dass die Koordination zwischen den physiologischen und psychologischen Reaktionen bei Jugendlichen mit CD reduziert ist oder sogar vollkommen fehlt. In Zukunft wollen die Forscher untersuchen, welche neurobiologischen Mechanismen hinter den beobachteten Störungen in den verschiedenen neuroendokrinen Systemen stecken und welche therapeutischen Implikationen sich daraus ergeben.
Symposium ECNP S.01 „The emerging neurobiology of aggressive behaviour: circuits, genetics and pharmacology”, 2. Oktober 2021